Ein Debattenbeitrag von Prof. Dr. Heinz Kleger
Toleranz ist ein Wort, ein Wert und eine Tugend, die den meisten viel, wenngleich oft Unterschiedliches bedeutet. Die Lebenserfahrungen, die dahinterstehen, sind verschieden; die Emotionen und (Vor-)Urteile, die sich darauf beziehen, ebenso. Die Idee eines neuen Toleranzedikts im vollen Wortsinne (im Unterschied zum historischen Edikt von 1685) verknüpft ein breites und vielfältiges Stadtgespräch mit einer verbindlichen Werteorientierung, einschließlich einer gemeinsamen Vorstellung von Toleranz. Das Abschlussdokument, das 2008 nach 8 Monaten zustande gekommen war, ist von der Stadtverordnetenversammlung begrüßt und vom Oberbürgermeister zum Leitbild erklärt worden.
Zu seinen Fixpunkten – das sind die Grundsätze, die es zu konkretisieren gilt – gehört es, die Möglichkeiten der Toleranz auszuschöpfen und das Nicht-Tolerierbare klar zu benennen; die Verbindung von Toleranz und Solidarität zu festigen; den Konsens der Demokraten gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und politischen Extremismus zu stärken sowie das Erbe von Aufklärung, Einwanderung und Toleranz sicht- und lehrbar zu halten. Letzteres ist keine Selbstverständlichkeit, vielmehr ist hier vieles buchstäblich nahezubringen, nicht nur als aktive Erinnerungskultur, sondern auch als aktuelle politische Theorie.
Mehrdeutige Toleranz
Wie jeder andere historisch-politische Grundbegriff ist auch Toleranz nicht einfach zu definieren. Im neuen Toleranzedikt haben wir sie bestimmt als Geduld (1), Offenheit (2) und friedlich-demokratischen Umgang mit Differenzen (3). Die Fähigkeit zur Toleranz, die immer wieder herausgefordert wird, vereinigt diese drei Bedeutungen.
Toleranz toleriert nicht nur andere Meinungen, sie toleriert auch Verhalten, das wir missbilligen. Sie benötigt mithin starke Nerven und bleibt doch eine dünne Haut. Die Menge an ‚Nonsens‘ und ‚Bullshit‘ in der medialen Konsum- und Erlebnisgesellschaft ist kaum noch zu übertreffen. Darüber hinaus nimmt der Dichtestress in der modernen urbanen Zivilisation zu, dem sich nur wenige Privilegierte entziehen können; die ‚gated communities‘ sind die eigentlichen ‚Parallelgesellschaften‘! Insofern ist die Verhaltenstugend der Toleranz weltweit eine zivilisatorische Voraussetzung des Miteinanderlebens geworden, und die stoische ‚tolerantia‘ (1) ist als Verblüffungsfestigkeit aktueller denn je.
Die Öffnung zur Welt kommt bei der aufklärungsbedingten Toleranz hinzu (2). Sie ist nicht nur eine Zumutungwie die stoische Toleranz des Ertragens, sondern vor allem eine Bereicherungüber ihre engere religionspolitische Funktion hinaus, die historisch nicht erledigt ist; unter traurigen Umständen haben wir erst die Jesiden, die Rohingya, die Uiguren, Kopten, Aleviten oder Drusen kennengelernt. Die Toleranz der Aufklärung ebnet den Weg zur Religionsfreiheit und zu den Menschenrechten. Im deutschen Grundgesetz von 1949 steht die Menschenwürde des Einzelnen an erster Stelle. Sie gebührt ausnahmslos Jedem und Jeder und muss nicht erst verdient werden, wie oftmals der Respekt. Die Weichheit der Toleranz – Lenin sprach abwertend von „demokratieweich“ – ist zugleich ihre Stärke, was sich alltäglich in der pluralistischen Gesellschaft und liberalen Demokratie bewähren muss. Diese ‚Toleranz der Demokratie‘ (3) schließt Konflikte nicht aus, sondern ein. Konkrete Urteilskraft und kreative Handlungsfähigkeit sind allerdings der Preis, der dafür zu zahlen ist. Toleranz und Entschiedenheit schließen sich nicht aus.
Bewährungsproben
Im Alltag und in der Politik wird das Toleranzedikt immer wieder zitiert. Zwei größere Bewährungsproben möchte ich hervorheben: die Flüchtlingshilfe und die zunehmende Verrohung des Umgangs miteinander beziehungsweise die Erosion demokratischer Öffentlichkeit. 2015 stand aus humanitären Gründen der Aufbau von Helfer-Allianzen im Vordergrund. Der Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ hat sich mit dem Internetportal ‚Help To‘, welches schnell bundesweit mit 80 Portalen in 11 Bundesländern nachgefragt wurde, beteiligt. Integration im sozialen Frieden zustande zu bringen, bleibt eine zentrale Herausforderung. Sie braucht viele Hände und Köpfe, Geld, Zeit und Geduld. Oder anders gesagt: mehr Sprachförderung, mehr Mut in der Wirtschaft und mehr gelebte Wertevermittlung, die niemanden ausschließt. Zudem ist ein kluges Einwanderungsgesetz, einschließlich des möglichen Spurwechsels für gut integrierte Asylbewerber, in Deutschland schon lange überfällig.
Probleme bei der Integration dürfen freilich nicht verschwiegen werden, sondern müssen frühzeitig und ehrlich – “jenseits von Panikmache und falscher Toleranz“ (Ahmad Mansour) – auf die Tagesordnung kommen. Andernfalls braucht man sich über den reaktiven Populismus vieler Bürger, auf den man eingehen muss, nicht zu wundern. Kein vernünftiger Mensch hat indessen jemals behauptet, dass „Heimatliebe ein Verbrechen ist“, wie es auf einem Spruchband in Cottbus hieß. In einer Heimat, gleich welcher, muss man sich aber ohne Angst integrieren können, sonst wird sie ein unheimliches Gebiet. Extremisten übertreiben bewusst und ideologisch unversöhnlich die Ängste, um kleine Bürgerkriege zu provozieren. Solchen Entwicklungen müssen sich bürgerschaftliche Gemeinwesen frühzeitig in großer Zahl entgegenstellen, da sie das wechselseitige Vertrauen der Bürger ineinander zerstören.
Aus diesem Grund hat der Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ verschiedene Kampagnen gegen Hassreden unternommen, darunter 2014 die erste bundesweit und 2018 eine Tour durch die Schulen und Landkreise Brandenburgs. Viele sind schon mit Mobbing, Hetze und Hass im Internet konfrontiert worden. Aufklärung darüber, was man dagegen tun kann, an der sich gerade Jugendliche aktiv beteiligen, ist ein gangbarer Weg, der von Gegenreden über Meldestellen bis hin zu Anzeigen führt. Fake News braucht man ebenfalls nicht zu teilen. Die Unterscheidung zwischen Fakes und Fakten ist eine Voraussetzung demokratischer Öffentlichkeit. Was bewusste Falschmeldungen auslösen können, haben wir jüngst in Chemnitz gesehen.
Bürgerfreundschaft
Bei beiden Bewährungsproben (Flüchtlingshilfe, Hate Speech/Fake News) führt der Ausgangspunkt der Toleranz bzw. des Nicht-Tolerierbaren im Umgang miteinander zu mehr sachlicher Aufklärung, die gleichermaßen eine intensive geistige und politische Auseinandersetzung geworden ist. Für diese Aufklärung braucht es breite parteiübergreifende Bündnisse (wie das Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, das Bündnis ‚Potsdam bekennt Farbe‘ oder den Verein ‚Neues Toleranzedikt‘). In der gegenwärtigen europaweiten Repräsentations- und Parteienkrise wird es zunehmend wichtiger, dass zusammen mit einer ‚guten Verfassung‘ und ‚zuverlässigen Institutionen‘ eine verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft als ‚kritische Masse‘ existiert, die über die sogenannte ‚bürgerliche Mitte‘ hinausgeht.
‚Bürgerfreundschaft‘ darf deshalb keine Kleingruppe bleiben, sondern sie muss zahlreicher werden und viele ‚verschiedene Individuen‘ einschließen. Auch dafür ist eine tolerante Haltung die Voraussetzung. ‚Toleranzedikt als Stadtgespräch‘ kann mithelfen, ein solch loses Band der Sympathie zu schaffen. Diese Vielheit („wir sind mehr“) handelt, wenn es nötig wird („Potsdam baut eine Synagoge, trägt Kippa, hat Platz für eine Moschee“) und kann Überraschendes zustande bringen (‚HelpTo‘). ‚Pogida‘ konnte 2016 in der Stadtgesellschaft auch nach zehn Abendspaziergängen nicht Fuß fassen.
Selbstgewählte Tradition
Nur weil die internationale Politik, etwa bei der Bekämpfung von Fluchtursachen oder des Klimawandels wichtiger wird, wird deshalb die lokale und regionale Politik nicht weniger wichtig, im Gegenteil. Dies betrifft alle Politikbereiche, insbesondere aber den Kernbereich demokratischer Politik, nämlich die Bildung von Bürgerschaft, die nicht vom Wertehimmel fällt. Hier spielt sich der gegenwärtige Hauptkonflikt ab: Was macht ein ‚Gemeinwesen‘ aus? Wer ist ein Bürger, und was leitet sich daraus ab? Dabei wird man wieder lernen müssen, auch über politische Emotionen zu sprechen, denn schließlich geht es um nicht weniger als um Identifikation, Identität, Lebenswelt und Heimat. Diese Begriffe verweisen aufeinander. Womit also kann und soll man sich identifizieren? Woher kommt der Anstand, woher die Maßlosigkeit? Und wie verlaufen gelingende Identifikationsprozesse, und woran scheitern sie? Darüber sollten wir uns Gedanken machen.
Genauso wie die kommunalpolitische Verankerung des Handlungskonzepts ‚Tolerantes Brandenburg‘ (1998) für das Flächenland Brandenburg entscheidend war und ist, so sind jetzt erst recht aufgrund des schwierigen Strukturwandels in der Lausitz, den nötigen Auseinandersetzungen mit den Terror- und Fremdenängsten vieler Bürger und deren mangelndem Vertrauen in die Lösungsfähigkeit von Politik und Staat sowie den identitären Versuchungen seitens der Neuen Rechten diese Bemühungen mit neuem Schwung fortzusetzen. Eine geistige Orientierung aus der Geschichte der demokratischen Verfassung (1849, 1919, 1949, 1992) verbunden mit einem kreativen Pragmatismus, der lösungsorientiert ist, muss das neue Bündnis für Brandenburgs Zukunft stärken.
Auf den bisherigen Erfolgen, die aus dem Vergleich mit den 90er Jahren resultieren, können wir uns nicht ausruhen. Eine neue Bürgerschaft entsteht aus Konflikten, die in demokratischen Auseinandersetzungen vor Ort zu führen sind, und Kooperationen, die man aktiv suchen muss. Wenn man sich dabei auf das Toleranzedikt beruft, dann ist das in einer Zeit, in der alles zerredet, rasch entwertet und schnell vergessen wird, nur gut. Dieses Kulturerbe lebt, solange daran angeknüpft wird. Man kann auch von einer Traditionsbildung sprechen, denn starke und heitere Gemüter brauchen Traditionen – ansteckende neue Traditionen, die von den Bürgerschaften selber gebildet und getragen werden.
(Der Beitrag ist am 10. Oktober 2018 in Potsdamer Neueste Nachrichten erschienen und wurde dem Verein vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.)